Die Magie des Heidelbeerstrauchs

Published by Laura Kier on

Seit meiner Geburt wächst in meinem Garten ein Heidelbeerstrauch. Mit den Jahren wurde er größer und stärker. Konnte viele Früchte tragen, die mir Kraft für den Tag gaben. Durch meine Erkrankung ist er aber nicht mehr kräftig und voller Äste, wie bei gesunden Menschen. Vielmehr wachsen nur noch wenige Beeren jede Nacht, mit denen ich gut haushalten muss.

Ehe ich dir erkläre, wie die Magie meines Heidelbeerstrauchs funktioniert, möchte ich einen Exkurs zu meiner Erkrankung wagen.

Ich kann nicht, ich will nicht und überhaupt …

Ich weiß, für viele Menschen ist ein Leben mit CFS oder ME ein Mysterium. Die wenigsten können sich vorstellen, was es bedeutet keine Energie für die Aufgaben zu haben, die man gerne erledigen würde oder tun muss. Oft genug stoße ich auf Unverständnis. Höre Sätze wie „Dein Körper muss sich erst an die höhere Belastung gewöhnen“ usw. Nein. Nicht können, nicht wollen und ohne Antrieb sein etwas zu tun, sind völlig verschiedene Arten von „ich lasse Aufgaben liegen“. Bei chronischer Erschöpfung treffen nur bedingt die letzten beiden Punkte zu. Die meisten CFS-Patienten, mit denen ich bislang Kontakt hatte, wollen etwas tun. Wir wünschen uns nichts sehnlicher, als unsere Ideen umzusetzen. Kraft für all die Pläne und Wünsche zu haben. Sei es ein Spaziergang, eine gemächliche Wanderung oder sogar ein Marathon. Wir wollen aktiv am Leben teilhaben können. Geld verdienen, den Haushalt schaffen, Kraft für Freunde, Familie und Hobbys haben. Aber die Realität sieht anders aus.

Nicht nur offensichtliche Aktivitäten wie Sport oder Staubsaugen sind kräftezehrend. Meistens fängt es bereits bei Aufgaben wie kochen, telefonieren oder Haare waschen an, anstrengend zu werden. Ich weiß, dass es deutlich schlimmer geht. Es gibt pflegebedürftige CFS-Patienten. Davon bin ich noch ein Stück weit weg. Aber auch für mich ist es anstrengend die Konzentration für ein Gespräch oder einen Blogbeitrag aufzubringen. Einkaufen gehen oder Hausarbeit können in totaler Erschöpfung enden – und nicht erst, wenn ich den Frühjahrsputz in wenigen Stunden erledigen möchte. Es gibt Tage, da kann ich die Wohnung saugen oder das Bad putzen. An anderen Tagen ist es schon zu viel, wenn ich die Spülmaschine ein- und ausräumen möchte – mit Pausen natürlich.

Eine Erklärung für Nicht-Erkrankte gibt Christine Miserandino mit der Löffeltheorie („The Spoon Theory“, schriftliche Übersetzung). Sie beschreibt, dass jeder Mensch eine bestimmte Anzahl an Löffeln pro Tag zur Verfügung hat. Andere ehemalige CFS-Patienten wie Toby Morrison nutzen Kreditkartenmodelle, um zu erklären, wie viel Energie ich pro Tag nutzen kann und warum ich nicht ins Minus gehen darf. Diese Modelle funktionieren, doch für mich sind sie noch nicht so anschaulich, wie sie sein könnten. Ich komme aus der Biologie, habe das Motiv des Gartens für meinen Blog gewählt und liebe Heidelbeeren. Also möchte ich für mich die bekannten Modelle umändern. So, dass ich selbst besser verstehe, warum ich nur eine bestimmte Anzahl von Löffeln, Geld oder in meinem Fall, Heidelbeeren zur Verfügung habe.

Wachstum und Zerfall

Mein Heidelbeerstrauch ist magisch. Jede Nacht wachsen an ihm Beeren, die mir Energie für meine Aktivitäten geben. Egal, zu welcher Jahreszeit oder ob das Wetter gut oder ungünstig ist. Ohne Unterlass produziert mein Strauch Heidelbeeren. Mal mehr, mal weniger. Je nachdem, wie ich mich verhalte. Aber wovon hängt es ab, wie viele Heidelbeeren ich naschen darf? Warum habe ich weniger als gesunde Menschen oder besser gesagt, warum spüre ich deutlich stärker, wenn ich mehr von meinem Strauch nehme, als ich sollte?

Heidelbeerenmagie

Verfügbare Heidelbeeren bei chronisch erschöpften und gesunden Menschen

Du kannst dir meinen Heidelbeerstrauch folgendermaßen vorstellen: Er ist klein, hat nur wenige Äste, an denen er Beeren trägt. Früher, vor dem Pfeiffersches Drüsenfieber 2002, war er voller Energie. Blätter umringten die starken Äste und überall wuchsen Beeren. Wenn ich eine brauchte, streckte ich die Hand aus und nahm sie mir. Nur sehr selten kam es vor, dass ich keine Beere mehr fand. Aber seit dem akuten Ausbruch vom EBV (Epstein-Barr-Virus, ein möglicher Auslöser für CFS), ist auch mein Strauch nicht mehr der alte. Über die Jahre wurden die Äste weniger, die Blätter spärlicher und es gab kaum noch Beeren für mich.
Momentan ist es ein ständiges Auf und Ab, wie viele Beeren über Nacht wachsen. Mal habe ich Glück, dann bekomme ich mehr Beeren. Aber wenn ich alle Beeren davon aufbrauche, hat mein Strauch die Beeren nicht zur Verfügung, um nach und nach seine eigene Kraft wieder aufzubauen und mir nicht nur an einzelnen Tagen das mehr an Beeren zu schenken. Du kannst es dir so vorstellen wie Blüten, die sich erst zu Beeren entwickeln müssen. Diese Blüten geben mir zwar durchaus Energie für eine Aktivität, aber wenn ich sie nutze – also an guten Tagen zu viel tue – dann verbrauche ich die Kraft, die sich erst langsam aufbaut und mir nicht permanent zur Verfügung steht. Warte ich aber ab und nehme solche Beeren erst, wenn sie nicht nur an einzelnen Tagen wachsen, dann steigt so Stück für Stück mein Energielevel. So zumindest die Theorie.

In der Praxis schaffe ich es in den letzten Wochen kaum noch, meine Grenzen einzuhalten. Jeden Tag, wo ich zu viel mache, also mehr Beeren verbrauche als ich habe, schade ich meinem Heidelbeerstrauch. Aktivitäten, für die ich keine Beeren habe, kosten mich Äste vom Strauch. Auf der Suche nach Heidelbeeren brechen sie ab und damit fehlen Zweige, an denen über Nacht Beeren wachsen. Mein Strauch wird schwächer, da auch die Blätter zur Regeneration mit den Ästen verloren gingen. Mein Energielevel sinkt. Ich bin erschöpfter, habe weniger Kraft und muss mich deutlich mehr ausruhen. Irgendwann wachsen die Äste nach, aber es dauert. Bei gesunden Menschen fällt es möglicherweise nicht einmal auf, dass an einem Tag ein paar Äste abgebrochen sind. Sie wachsen schnell genug, weil der Busch an sich viel Kraft hat und damit Energiedefizite gut ausgleichen kann. Bei mir nicht. Abgebrochene Äste verringern mein Energielevel über Tage.
„Reiß dich mal zusammen“ oder „du gewöhnst dich daran“ sind deshalb zum Scheitern verurteilt. Solche Sätze tun weh, weil ich an beides gerne glauben würde, mein Leben aber anders aussieht. Für mich gibt es durch Schlafen am Tag, Ausruhen oder Traumreisen keine zusätzlichen Beeren. Nach Beeren im Busch suchen und dabei Äste abbrechen kostet langfristig.
Auch die Idee, Beeren aufzuheben, um bspw. am Folgetag mehr machen zu können, geht nicht. Wenn ich die Beeren nicht nutze, sind sie am nächsten Tag nicht mehr genießbar. Dann aber kommen sie meinem Busch zugute. Er kann die ungenutzten Beeren in neue Kraft für sein Wachstum verwandeln, damit irgendwann über mehrere Wochen und Monate, mein Energielevel ansteigt.

Und im Leben?

Was bedeutet das Bild für mich im Alltag? Wie wird es noch greifbarer? Hier brauche ich ein paar Zahlen. Wenn ich davon ausgehe, dass ein gesunder Mensch 100 % Energie zur Verfügung hat, entspricht das 100 Heidelbeeren. Ich pendel zwischen 10 bis 30 % Energie, also 10 bis 30 Heidelbeeren pro Tag (im Mai war ich auch schon mal bei 40 Heidelbeeren). Je nachdem, wie gut es mir geht. Auch weitere Symptome von CFS (die Erschöpfung ist nur eines der Leitsymptome!) können dazu führen, dass ich weniger Heidelbeeren zur Verfügung habe. Bei mir gehören bspw. Dauerkopfschmerzen sowie ab und an Migräne, muskelkaterartige Schmerzen in Armen und Beinen, Rückenschmerzen, Konzentrationsprobleme sowie diverse weitere Symptome dazu. Aber zurück zu den Zahlen. Dazu eine kleine Preisliste, wie teuer manche Aktivitäten für mich sind. Diese Liste gilt nicht universal. Für jeden sind die Kosten individuell, weil jeder andere Schwerpunkte hat, was ihn anstrengt. Auch von Tag zu Tag können die Preise variieren.

  • jeweils 0 Heidelbeeren: Schlafen, Meditieren, Traumreisen, andere Entspannungstechniken – progressive Muskelentspannung gehört für mich nicht dazu, hier konzentriere ich mich zu sehr auf die An- und Entspannung
  • jeweils 1 Heidelbeere: Duschen, Haare waschen mit föhnen, Frühstück machen, 30 min Busfahren, 15 min leichte Konzentrationsarbeiten ohne Ablenkung (Arbeit, Schreiben, zocken, telefonieren, …), 15 min leichte körperliche Arbeit (spazieren gehen, aufräumen, Spülmaschine ein- bzw. ausräumen, malen, …), 15 min Autofahren, 60 min vom TV beschallen lassen, baden, 15 min Freunde treffen
  • jeweils 2 Heidelbeeren: 15 min konzentriert Arbeiten (Arbeit, Schreiben, Sachtexte lesen, Gespräche führen, …), 15 min körperlich Arbeiten (Aquafitness, Laminat oder Fliesen saugen, nähen, …), kochen, Wäsche waschen inkl. Falten
  • jeweils 3 Heidelbeeren: 15 min stark konzentriert Arbeiten (Meetings, arbeiten mit Ablenkung im oder vor dem Büro durch Gespräche, schwierige Texte verfassen, gezielt lernen, Diskussionen; jemandem etwas erklären, der nicht richtig zuhört oder in den Gedanken springt; …), 15 min körperlich anstrengende Arbeiten (Rasenmähen, bergauf wandern, Teppich saugen, …)
  • 4 und mehr Heidelbeeren: je länger eine Aktivität dauert und je weniger Pausen ich zwischendrin einlege, umso mehr Beeren benötige ich, um mein Energielevel ausreichend hochzuhalten

Für mich macht diese Übersicht vor allem deutlich, wie schnell ich immer wieder über meine Grenzen gehe. Es ist leicht, zu leicht. Mein Pflichtbewusstsein ist stark. Dazu mein ungebrochener Kampfgeist, meine Motivation Angefangenes durchzuziehen. Ich möchte Freunden und Familie helfen, will nicht aufgeben und meine Ideen umsetzen. Schnell gerate ich daher in den Sog der unkontrollierten Fresssucht. Eine Heidelbeere nach der anderen wandert in meinen Mund. Nur kurz darauf stehe ich ohne da. Verausgabt, dennoch mit unbeugsamen Willen und dann fangen an die Äste zu brechen.
„Da muss doch noch mehr sein“ und „die anderen glauben daran, dass ich es schaffe“ sowie „stell dich nicht so an“ treiben mich weiter. Meine Vernunft sagt mir, dass es nicht gut ist. Mein Körper schreit nach Ruhe. Dennoch … Gerade jetzt in einer Phase, wo ich meinen Alltag nicht frei gestalten kann, sondern mich in der Wiedereingliederung befinde, sind meine Energiereserven schneller erschöpft, als mir lieb ist. Dazu möchte ich aber in meinem nächsten Beitrag mehr schreiben. Für heute ist es genug. Ich hoffe, ich konnte dir verständlich erklären, was es bedeutet, chronisch erschöpft zu sein. Es hat nichts mit Faulheit oder fehlendem Antrieb zu tun. Es liegen tatsächlich körperliche Ursachen zugrunde, die von der Medizin oftmals noch nicht geheilt werden können.

Wie sieht es mit dir aus?

Steht dein Heidelbeerstrauch in voller Blüte? Solltest du vielleicht hier und da lieber mehr entspannen und dir Zeit für dich nehmen?

Ausblick

Marienkäfer sind Glücksbringer. Ihren Flug zu beobachten ist entspannend. Aber was passiert, wenn ihre filigranen Flügel vom Wind gepackt und sie von Blumen und Sträuchern fortgerissen werden? In meinem nächsten Beitrag möchte ich Ideen sammeln, wie ich mich aus den Fängen des Alltags befreien kann neue Wege einschlagen, um wieder auf die Beine zu kommen. Vielleicht hast du ja ebenfalls einige Ideen, die du mit mir teilen magst.

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Laura Kier

»Träume verändern die Zukunft. Doch erst wenn wir die Augen öffnen, können wir sie verwirklichen!« Mit diesen Worten in Gedanken, schafft Laura Kier magische, mystische und vielleicht auch gefährliche Welten voller Abenteuer, die Lichtfunken in dein Leben tragen können. Sie lädt mit ihren Texten Leser:innen ein, den eigenen Träumen zu folgen. Neben dem Schreiben genießt sie die Natur, liebt das Leben und ist vielfältig kreativ unterwegs, wenn ihre beiden verspielten Katzen es erlauben.

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