Perfektion
Wunsch nach Freiheit
Entscheidet Tally sich für die Flucht?
Die Vorgeschichte zur dystopischen Dilogie »Perfektion – Die Veränderten« und »Perfektion – Die Ursprünglichen«.
Für einen Moment konnte Tally beinahe vergessen, an welchem Ort sie sich befand. Das gläserne Gefängnis ließ wenigstens kurz ein Gefühl von Freiheit in ihr aufkommen. Tief atmete sie die warme, leicht feuchte Luft ein. Sie duftete nach Moos, frisch geschnittenem Gras und Kiefern. Jedes Mal, wenn sie in dieser Kuppel war, fühlte es sich an, als würde sie nach Hause kommen.
Mit geschlossenen Augen drehte sie sich einmal im Kreis. »Wenn wir doch nur ewig hierbleiben könnten!« Alles in ihr fühlte sich leicht an, als würde die Sonne ihr direkt ins Gesicht scheinen und nicht durch die dicken Glasscheiben. Sie hob die Arme an, als würde sie mit den bunten Schmetterlingen in der Kuppel fliegen.
»Das würde ich mir auch wünschen.« Adara gähnte. »Lass uns eine Pause machen. Ich bin ein wenig müde. Vermutlich habe ich schlechter geschlafen, als ich dachte.«
Tally ließ die Arme sinken und sah Adara mit gerunzelter Stirn an. Normalerweise liefen sie so lange wie möglich durch die Kuppel, um zusätzliche Bewegung zu haben. Doch heute waren sie nur zügig vom äußeren Ring bis zum Wasserlauf in der Mitte gegangen.
Äußerlich wirkte Adara wie in den vergangenen Wochen. Ihre bleiche Haut so ganz ohne Pusteln und Rötungen zu sehen, brachte Tally zum Lächeln. Sie wollte Adara nicht irritieren oder beunruhigen, deshalb sagte sie: »Ich bin so froh, dass die Veränderung bei dir erfolgreich war.«
Adara winkte ab. »Du wirst auch bald so aussehen. Aber warum siehst du mich so besorgt an?«
»Weil du jetzt schon müde bist. Der Schlafmonitor hat keine Auffälligkeiten gemeldet.« Da riss Tally die Augen auf. »Moment! Hat es dieses Mal geklappt? Bist du endlich schwanger?« Innerlich atmete sie auf. Dieses Kind bedeutete Hoffnung, die sie alle dringend brauchten. Gleichzeitig fuhr ein unangenehmer Stich mitten in ihr Herz. Bei Genteck wäre es gefangen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Wenn dieses Kind in Freiheit aufwachsen sollte, dann musste sie heute handeln und diesen hirnrissigen Fluchtplan in die Tat umsetzen. Dabei war sie nicht einmal davon überzeugt, dass er unter optimalen Bedingungen funktionieren könnte!
Adara kniff die Augen zusammen. »Ist alles in Ordnung? Und glaubst du wirklich, dass ich schwanger sein könnte?« Ihre Lippen hoben sich im Anflug eines Lächelns, aber sogleich verschwand dieses wieder und sie zuckte die Schultern. »Ich freue mich besser nicht zu früh.« Sie deutete zu einem Entenpaar in der Nähe, dem drei Küken über das Gras folgten. Die Familie watschelte unter einen Rhododendronbusch hindurch und sprang auf der anderen Seite in den Bach. »Werden unsere Kinder auch mit uns durch die Kuppel laufen?«
»Ja. Ich hoffe es zumindest.« Tally zog Adara in die Arme und drückte sie fest. Tief atmete sie durch, um den Kloß in ihrem Hals zu vertreiben. Es war Zeit, dass sie sich gegen Genteck Systeme auflehnten.
Der Forschungskonzern war ein Gefängnis. Vielleicht ein hübsches, mit den letzten Resten der überlebenden Natur von früher in den Lebenskuppeln, aber es blieb ein Käfig. Zudem wusste niemand, wohin die Schwangeren gebracht wurden und ein Kind hatten sie alle seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen.
Davon wollte sie Adara lieber nichts erzählen. Manchmal wünschte sie sich, sich ebenfalls an nichts zu erinnern. Um sich nicht anmerken zu lassen, was sie wusste, flüsterte sie Adara ins Ohr: »Warte ab! Deine Schwangerschaft wird etwas Besonderes.« Dann ließ sie sie los und beobachtete ein paar Kaninchen, die im Zickzack über die Wiese huschten. »Wir sollten weitergehen. Sonst kommst du zu spät zur Untersuchung.«
Adara rollte mit den Augen. »Na gut.« Langsam ging sie den Weg entlang und zog Tally mit sich. »Die großen Bäume da hinten sind Kiefern, richtig?« Dann deutete sie auf die niedrigeren Büsche. »Und die Pflanzen mit den wunderschönen Blüten sind Rhododendren.« Sie strahlte über das ganze Gesicht. Als ein brauner Blitz direkt vor ihnen über den Weg flitzte, zuckte sie zusammen. »Oh! Und die langohrigen Tiere heißen Kaninchen.«
Tally nickte. »Du machst gute Fortschritte.«
»Danke!« Adara sah sich weiter um. »Da! Ein Schmetterling.«
»Ja. Das ist ein Distelfalter. Früher gab es davon sehr viele.« Sie senkte den Kopf. Normalerweise fühlte sie sich leichter, wenn sie die bunten Schmetterlinge in der Kuppel beobachtete, aber seit die Chance bestand, dass Adara wirklich schwanger war … Alles in ihr fühlte sich schwer an. Das Warten hatte ein Ende, aber dadurch würden sie auch an einem anderen Ort untergebracht. Jetzt lag es an ihr, dass alles gelang und sie sich wieder frei wie die Falter fühlen konnte.
Einige Schritte gingen sie schweigend nebeneinander her. Am Ausgang der Grünanlage lächelte sie Adara aufmunternd an. »Es hat bestimmt geklappt.«
»Danke. Ich merke noch nichts, aber der letzte Versuch ist ja auch erst ein paar Tage her.« Sie ging durch die Tür und trat auf den Flur hinaus.
Tally folgte ihr. Das grelle Licht der Beleuchtung im Forschungskomplex stach unangenehm in ihren Augen und der Geruch des Desinfektionsmittels vertrieb all die angenehmen Düfte der Lebenskuppel. Am liebsten wäre sie direkt in die Kuppel zurückgekehrt und hätte die Wartezeit dort verbracht. Doch sie hatte eine andere Aufgabe.
Zusammen gingen sie durch mehrere Flure, entlang an weißen Wänden und unter hellblauen Decken hindurch. Alles sah gleich aus. Zum Glück gab es zahlreiche Wegweiser, an denen sich Tally gut orientieren konnte.
Nach einigen Abzweigungen erreichten sie das Zimmer der Ärztin. Noch einmal drückte Tally Adaras Hand. »Lass dir alles genau erklären. Ich brauche etwas Zeit, dann hole dich hier wieder ab.«
»Wartest du heute nicht?«
»Ich möchte meinen Bruder treffen. Wir haben uns lange nicht gesehen.«
»Deinen Bruder …« Adara neigte den Kopf ein wenig zur Schulter. Sie kniff die Augen zusammen, dann nickte sie. »Viel Spaß dir. Wir sehen uns später.« Sie betätigte den Summer neben der Tür.
Als sich diese einen Moment später öffnete und Adara eintrat, atmete Tally erleichtert auf. Der erste Schritt war geschafft. Jetzt musste sie nur noch zu den Landungsplätzen gelangen, und das am besten ungesehen.
Eine Kuppel mit hohen Bäumen und bunten Schmetterlingen ist der einzige Ort, an dem du dich noch frei fühlst. Bist du bereit, dein Paradies zu verlassen und die Flucht zu wagen?
Die Welt außerhalb der Kuppeln ist zerstört; Kinder hat seit vielen Jahren niemand mehr gesehen. Denn nur dem skrupellosen Forschungskonzern Genteck Systeme gelingt es, Frauen zu schwängern. Der Preis: Mit veränderter DNA und ohne Erinnerungen aufzuwachen.
Tally begleitet die Veränderte Adara, damit sie sich im Alltag zurechtfindet. Beide hoffen, dass die Befruchtung erfolgreich war. Doch ist Adara bereits schwanger? Und kann sich Tally dazu entscheiden, den waghalsigen Fluchtplan in die Tat umzusetzen?
Genres: Dystopie
Recommended reading age: 16+
Series: Perfektion