Wünsche und Lichtfunken
1. Kapitel – Größter Wunsch
»Was ist dein größter Wunsch im Moment?«
»Bitte was?« Ich zuckte zusammen, als Nelas Stimme meinen Gedankenfluss bei der Zusammenfassung der Lernnotizen zur Entwicklungspsychologie unterbrach. »Mein größter Wunsch?« Ich sah sie irritiert an. Die Frage brachte mich aus dem Konzept. Ohne darüber nachzudenken, sagte ich: »Wieder eine Katze haben.«
»Echt?« Nela schloss die HappyLife, in der sie soeben noch gelesen hatte. »Du wünschst dir eine Katze, Insa?« Sie rutschte auf dem Stuhl vor und sah dabei aus, als würde sie gerade eine Offenbarung von mir zu hören bekommen.
Ich hob und senkte die Schultern. »Scheint so. Hab nicht drüber nachgedacht. Aber wenn ich es tue, dann hätte ich wirklich gerne wieder eine.« Sehnsüchtig sah ich aus dem Fenster des neuen Lernzentrums für uns Studenten. Es war beinahe dunkel. Eigentlich viel zu spät. Aber Katzen war das egal. »Ja, das wäre wirklich schön.«
»Hab dich nicht für den Katzentypen gehalten. Überhaupt nicht für jemanden, der gerne Tiere um sich hat. Und ich dachte, ich kenne dich mittlerweile ganz gut.« Sie kniff die Augen zusammen. »Was verheimlichst du mir noch?« Ihre Lippen formten ein Lächeln und als sie die Augen wieder öffnete, blitzte es darin, als würde sie ein heiß ersehntes Geschenk auspacken.
»Nichts!«
»Insa, bitte! Verrate mir noch etwas. Was weiß sonst niemand?« Sie klang beinahe wie ein Kind, das seine Eltern für einen Ausflug in den Zoo begeistern wollte.
Ihre fröhliche Art machte es mir schwer, ihr diesen Wunsch auszuschlagen, aber mir fielen beinahe die Augen zu, so erschöpft war ich plötzlich. Was sollte ich ihr verraten? Mit einem Seufzer schloss ich den Laptop. An Entwicklungspsychologie war heute nicht mehr zu denken. Lieber dachte ich weiter über niedliche Kätzchen nach als über das, was mir bevorstand. Aber das sollte ich Nela womöglich tatsächlich verraten. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus und mein Magen zog sich unangenehm zusammen. Trotzdem rang ich mich dazu durch, ihr dieses Geheimnis zu erzählen: »Es weiß sonst niemand, dass ich das Studium an den Nagel hängen kann, wenn ich die Klausur noch einmal vergeige.« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Die Tische der Lernenden neben uns sollten keine spitzen Ohren bekommen.
»Ernsthaft?« Nela war dafür viel lauter, als mir lieb war. »Ich dachte, wir haben drei Versuche.«
»Haben wir auch.« Ich stützte die Ellbogen auf dem Tisch auf und legte das Kinn in die Hände. Es fühlte sich so unwirklich an, hier zu sitzen und zu versuchen, mir das nötige Wissen in den Kopf zu hämmern. Mit Mitte dreißig ein zweites Studium zu beginnen, hätte ich mir vor ein paar Jahren nicht vorstellen können. Doch ich war hier und wollte mehr erfahren, was Menschen antrieb. Dazu musste ich es schaffen, mir das Wissen anzueignen. Stress pur!
Ein wenig hilflos sah ich deshalb Nela an. »Wie schaffst du es, dir all diese Entwicklungsstufen zu merken? Ich hasse auswendig lernen! Und bitte posaune das jetzt nicht überall herum. Muss niemand wissen, mit den Versuchen. Ist so schon genug Stress.«
Nela legte die HappyLife auf meinen Laptop. »Lies das, dann sag ich nichts.« Sie grinste mich verschmitzt an. »Wird dir guttun.«
»Willst du mich erpressen?«
»Nope. Ich will nur, dass du entspannst. Dann packst du nicht nur die Klausur, sondern auch das Lernen. So schaffe ich es. Es bringt nichts, wenn ich mir alles ins Hirn einprügele. Dann merke ich mir nichts.« Sie schob den Stuhl zurück und ging zum Fenster. »Schau dir die Welt an. Verknüpf das Wissen mit dem, was du siehst.«
Ich drehte mich ebenfalls zum Fenster. Draußen war es mittlerweile dunkel. Also war es nach zehn, vermutlich elf. Viel zu spät für meinen Geschmack. Vor Kurzem erst hatten wir den höchsten Sonnenstand des Jahres zusammen gefeiert. Nela hatte die verrückte Idee, einen Ausflug zu einem Sonnenwendfest in Südschweden zu machen. Allein durch die lange Fahrt hatte ich zu viele Stunden fürs Lernen verloren. Aber gut, rückgängig machen konnte ich es nicht. Und Spaß gemacht hatte es schon. Tatsächlich hatte ich diesen spontanen Einfall sogar sehr genossen. Trotzdem sollte ich vielleicht jetzt doch noch ein wenig weitermachen? Entspannen wäre zwar sinnvoll, aber wenn ich noch etwas lernte, könnte ich mein schlechtes Gewissen ein wenig gnädiger stimmen.
Gerade wollte ich den Laptop wieder öffnen, da sagte Nela: »Ich glaube, wir gehören so langsam zu den Letzten auf dem Campus. Feierabend?«
Ich sah mich im Raum um. Die Neonbeleuchtung tauchte alles in ein grelles, unangenehmes Licht. Viel zu hell für meine übermüdeten Augen. Beim Lernen hatte ich nicht einmal bemerkt, wie sich der Raum leerte. Als wir ankamen, waren nur wenige Tische unbesetzt gewesen. Überall summten Laptops und viele unserer Mitstudenten unterhielten sich leise.
Nur am Rande hatte ich mitbekommen, als Nela vom Lernen zum Lesen wechselte. Doch ich wollte wenigstens noch die Zusammenfassung fertigmachen. Nicht ganz geschafft, aber einen Mini-Schritt weiter. Vielleicht wäre es gut, noch ein bisschen zu schaffen …
Nela kam zu mir. »Du denkst doch jetzt nicht darüber nach, noch weiter zu lernen? Du weißt schon, dass dein Körper Ruhe braucht? Wer ist hier eigentlich die Ältere und Vernünftigere von uns beiden?«
»Aber –«
»Kein aber! Es ist bald Mitternacht. Und ich möchte nicht allein Straßenbahn fahren. Also kommst du mit? Bitte?« Sie setzte ihr niedlichstes Bettelgesicht auf und faltete die Hände vor dem Gesicht zusammen, wobei ihre bunten Metallarmreifen klimperten.
Ich seufzte, strich mir eine Strähne hinter das Ohr und nickte. »Also schön. Feierabend für heute. Oder besser Pause und ich lerne in meiner Wohnung weiter.«
»Tue, was du nicht lassen kannst.« Sie schnappte sich die HappyLife vom Tisch und drückte sie mir in die Hand. »Nach der Lektüre wirst du es vielleicht lassen. Also nimm dir bitte die Zeit dafür. Nur ein paar Minuten.«
»Vorher lässt du mich nicht in Ruhe, oder?«
Sie schüttelte den Kopf, grinste dabei aber, als würde sie etwas aushecken.
»Willst du mich abfragen?«
»Ne, besser ausfragen. Erzähl mir doch mehr von dem Katzenwunsch.« Sie packte ihre Sachen zusammen und schob den Stuhl unter den Tisch. Es quietschte unangenehm.
Auch ich packte meinen Laptop ein und hängte mir die Tasche über die Schulter. »Was soll ich da erzählen? Bis zum Umzug hierher hatte ich eine Katze. Aber mein Vermieter erlaubt keine Tiere. Außerdem könnte ich es mir nicht leisten.« Gut, so ganz stimmte das nicht. Durch den Verkauf des Hauses von meinem Ex und mir hatte ich Geld zur Verfügung. Aber das musste reichen, bis ich als Psychotherapeutin arbeiten könnte. Für eine eigene Praxis war das Geld zu wenig, auch wenn das mein großer Wunsch war. Zusätzliche Ausgaben wollte ich mir deshalb nicht leisten. Besser wäre es, wenn ich eine Möglichkeit fand, mir ein wenig dazuzuverdienen oder meine Kosten zu senken. Vielleicht sogar beides.
Als wir nach draußen traten, liefen wir gefühlt gegen eine Wand. Außerhalb des klimatisierten Gebäudes war es stickig und viel zu warm. Am liebsten wäre ich nur im BH zur Straßenbahn gelaufen.
Auch Nela stöhnte. Sie zupfte an ihrem bunten Batik-Top und fächerte sich mit der Hand Luft zu. »Wieso ist es noch so heiß?« Sie schlug den Weg zur Straßenbahnhaltestelle ein. »Wo ist die Katze jetzt?«
»Bei meiner Mutter. Dort kann sie nach draußen. Das wäre hier auch nicht möglich.«
Nela rümpfte die Nase. »Es gibt doch reine Wohnungskatzen. Und vielleicht wärst du in einer WG besser aufgehoben. Bei uns dürftest du laut Vermieter eine Katze halten.«
»Ernsthaft, für eine WG bin ich zu alt. Ich mag es, allein zu wohnen.«
»Aber du könntest Kosten sparen.«
»Bei euch in diesem winzigen Kabuff?«
Nela grinste. »Wir suchen da noch jemanden. Es ist günstig!«
»Anders werdet ihr für die zwölf Quadratmeter auch niemanden finden.«
Schweigend schlenderten wir unter den Kastanien im Schein der Straßenlaternen entlang. Unterwegs sah ich eine Katze, die in eine Einfahrt der an die Uni grenzenden Wohnhäuser huschte. Ein Stich fuhr in mein Herz. Noch vor einem Jahr hätte Mika vor unserem Haus auf mich gewartet. Aber alles hatte sich seitdem verändert. Manches zum Guten, anderes … Sehnsüchtig dachte ich an meine kleine Freundin und wischte die verräterischen Tränen aus den Augenwinkeln. Es war die richtige Entscheidung gewesen, sie zu meiner Mutter zu geben.
Nela buffte mich an. »Woran denkst du? An einen Umzug?«
»Nicht schon wieder. Einer im Jahr reicht. Eher an meine Katze Mika. Aber erst der Abschluss, dann schaue ich weiter.«
»Willst du wirklich so lange warten? Das sind doch noch gut und gerne fünf Jahre, wenn du wirklich in die Therapie möchtest!« Sie hielt mich fest und hinderte mich daran, weiterzugehen. »Lass uns zusammen darüber nachdenken. Vielleicht finden wir eine bessere Lösung.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist lieb, aber ich habe schon zu viel darüber gegrübelt. Ich möchte nicht wieder vom Baum der Hoffnung in ein tiefes Loch fallen.« Langsam ging ich weiter.
Nela folgte mir. »Das brauchst du nicht. Wenn du dir eine Katze wünschst, dann finden wir einen Weg. Eine Idee hätte ich sogar.«
Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer, aber gleichzeitig zog sich mein Magen zusammen. Es gab keine Möglichkeiten. Vielleicht sollte ich besser das Thema wechseln? Doch ich war zu müde, um die Gesprächsrichtung zu ändern. Deshalb schwieg ich.
Nela fasste dies als Einladung auf. »Ich kann nachvollziehen, dass es nicht so einfach für dich ist, Mika wieder zu dir zu holen. Aber was wäre mit anderen Katzen? Also nicht bei dir direkt.«
Ich kniff die Augen zusammen, wodurch ich beinahe über eine Wurzel stolperte, die den Gehweg hochdrückte. »Wie soll denn das gehen? Auch Pflegekatzen sind nicht erlaubt. Und ins Tierheim zu fahren, um mal eine Katze zu streicheln, ist auch nicht das Wahre.«
»Stimmt. Gibt bessere Möglichkeiten. Du könntest dir als Katzensitter ein wenig Geld verdienen und dein Wunsch nach Katzen würde sich erfüllen. Gut, sie wohnen dann nicht bei dir. Aber es gibt doch auch Haussitter, wo du dann für ein paar Tage sogar bei der Katze einziehen kannst. Oder eben nur stundenweise. Wie du möchtest.«
»Moment. Was schlägst du da vor?« Ich wirbelte zu ihr herum, wobei mir beinahe die Laptoptasche von der Schulter rutschte. »Ich soll neben dem Studium noch Katzen sitten? Ich komme doch jetzt schon nicht mit dem Lernen klar. Mir läuft die Zeit davon!«
»Denk drüber nach. Meine Tante sucht immer wieder jemanden für ihren Kater Krümel. Wenn du möchtest, geb ich dir ihre Nummer.« Nela zog ihr Smartphone aus der Tasche und warf einen Blick darauf. »Oh shit! Lauf! Die Straßenbahn ist gleich da!«
Zum Glück waren es nur noch gut hundert Meter, aber die sprinteten wir schwer atmend nebeneinander her, ohne weiter über die Möglichkeit des Katzensittings zu sprechen. Ehrlich gesagt war ich auch zu müde, um darüber nachzudenken.