Perfektion – Die Veränderten
Der skrupellose Forschungskonzern Genteck Systeme will Adaras ungeborenes Kind und tötet jeden, der im Weg steht. Adara flieht und kämpft fortan ums Überleben. Die Drohnen von Genteck kreisen am Himmel, in den verlassenen Stollen lauern Kopfgeldjäger und wohin sie auch geht, ist das Wasser giftig. Dennoch gibt es für Adara nur ein Ziel: Die Schwestern der Auferstehung. Aber können diese Rebellen sie und ihr Ungeborenes wirklich vor Genteck beschützen?
Taschenbuch: 240 Seiten
Erschienen: 13. April 2018
Perfektion - Die Veränderten
1. Kapitel – Außenwelt
»Das würde ich gerne mit dir erkunden, Adara.« Tally starrt aus dem Fenster des Schwebers.
Ich folge ihrem Blick. Allerdings kann ich nicht erkennen, was sie meint. Draußen sehe ich in der Mittagssonne nur schwarze Steine, verdorrte Büsche und tote Bäume, die ihre Äste in den Himmel strecken. Kein Leben, das mich reizen würde. »Wovon redest du?«
»Dahinten! Der Förderturm.« Sie hebt die Hand und deutet auf ein Gerüst am Horizont.
Vage Bilder an andere Gebilde dieser Art, steigen in mir auf. Doch ich kann sie nicht greifen. Dieser Förderturm erinnert mich jedenfalls an den Tod. Nicht eine Bewegung ist bei ihm auszumachen. »Warum willst du dorthin? Da ist nichts!«
»Woher willst du das wissen? Wir waren noch nie dort. Immer fliegen wir nur daran vorbei, sehen alles aus der Ferne. Wie kann das genug sein? Ich will Abenteuer erleben und meinen Kindern die Welt zeigen!«
Ich lehne mich im Sessel zurück und schließe für einen Moment die Augen. Es fällt mir schwer, Tallys Sehnsüchte zu verstehen. Ich wünsche mir anderes. Mich zu erinnern zum Beispiel.
Mein ganzes Leben ist fort. Nur die letzten drei Monate sind noch da. Meine Zeit mit Tally. Ihre Lebensfreude und Geduld sind es, die mich in eine schützende Decke einhüllen und mir die Kraft geben, sämtliches Wissen neu zu erlernen. Trotzdem kommt mir alles merkwürdig vor. Ich habe das Gefühl, als wäre alles falsch. Als würde meine neue Welt aus Lügen bestehen. Jedes Mal, sobald ich einen der Propaganda-Filme von Genteck Systeme sehe, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Unveränderte wie Tally sind ganz und gar keine Menschen zweiter Klasse. Ohne Tally wäre ich aufgeschmissen! Dennoch muss ich zugeben, dass das Leben bei Genteck seine guten Seiten hat. Noch vor einer Stunde sind wir durch eine gläserne Kuppel spaziert, in der das Leben blühte. Kaninchen flitzten zwischen Rhododendronbüschen über die Wiesen. Ein Bachlauf lud Enten zum Baden ein … Alles war da. Aber nun? Hier draußen gibt es nichts! Nur tote Überreste aus einer Zeit, von der ich nichts weiß. Innerlich balle ich die Fäuste. Meine Muskeln spannen sich an. Ich muss es wissen. »Was ist hier passiert?«
»Ich weiß es nicht.« Tally berührt mich am Arm. »Ich bin mir nur sicher: Es muss da draußen mehr geben! Mehr, als wir glauben, Adara! Genteck Systeme will, dass wir uns nur mit den schönen Dingen beschäftigen. Aber das kann ich nicht. Wenn ich könnte, würde ich das ganze Land erkunden.«
»Das ist nicht mit deinem Kinderwunsch vereinbar. Reisen und Kinder geht nicht«, erinnere ich sie an die Worte von Genteck Systeme. Dabei hat sie vermutlich recht. Nur da draußen würden meine Fragen ehrlich beantwortet und Tallys Neugierde gestillt. Aber wir können nicht weg. Der Pilot des Schwebers wurde angewiesen, uns ohne Umwege vom Forschungskomplex zu unserer Wohnkuppel zu fliegen. Schnellstmöglich.
Ich drücke Tallys vernarbte Finger. Mit einem Lächeln versuche ich, sie aufzumuntern. »Wenn die Kinder groß genug sind, vielleicht können wir dann –«
Ihre Finger entgleiten meinen, als der Schweber in ein Luftloch fällt. Nichts Ungewöhnliches, aber er fängt sich nicht wie sonst.
Wir sacken weiter ab, ich kralle mich an den Armlehnen fest. Der Schweber ruckelt und wackelt, schüttelt uns schmerzhaft durch. Ein unerträgliches Pfeifen ertönt, wir werden nach rechts geschleudert, wobei Tallys Kopf gegen das Fenster knallt.
»Alles in Ordnung?« Ich richte mich im Sessel auf und sehe sie besorgt an. Tally nickt. Ich versuche, die Richtung auszumachen, aus der das Geräusch kommt. Keine Chance. Alles bebt und knarrt. Ein weiteres Schlingern. Ich werde gegen Tally geworfen und stürze zu Boden.
Der Schweber driftet nach links.
Erschrocken hole ich tief Luft, beiße mir auf die Zunge. Ich schmecke Blut, verdränge es aber. Ich muss mehr sehen, einen Blick aus dem Fenster werfen.
Noch während ich versuche, mich aufzurichten, jault der Motor auf. Mit einem Sprung nach vorne endet der Flug. Krachend prallen wir auf den Felsboden. Ein gewaltiger Ruck geht durch meinen Körper, presst sämtliche Luft aus meinen Lungen.
Der Schweber überschlägt sich. Kurzzeitig stehen wir Kopf, nur um auf der Seite zum Stillstand zu kommen.
Metall knirscht und reißt. Immerhin werde ich nicht mehr hin und her geschleudert. Gerade als ich mich aufrappeln will, löst sich eine Metallplatte aus der Deckenverkleidung und begräbt mich unter sich. Quer über meiner Brust liegt das schwere Metall. Ich kann kaum atmen. Ich versuche, die Platte zur Seite zu schieben, aber es geht nicht.
Panik keimt in mir auf. Wie soll ich mich befreien? Alleine schaffe ich das nicht.
»Tally«, krächze ich und warte auf eine Antwort. Es kommt keine. »Tally!«, rufe ich lauter. Ich kann sie nicht sehen. Lebt sie? Vielleicht hat sie das Bewusstsein verloren. Ich muss zu ihr.
Abermals bemühe ich mich, mich unter der Metallplatte hervorzuschieben, doch ich muss innehalten. In meiner Seite sticht es unangenehm, worauf mein Herz stolpert. Meine Sorge gilt dem Leben, das in mir heranwächst. Es ist noch so frisch, dass ich es nicht glauben kann … Womöglich hat es den Absturz nicht überstanden. Entsetzt reiße ich die Augen auf. Falls es noch eine Chance gibt, der Menschheit dieses Kind zu schenken, dann nur, wenn ich überlebe!
»Tally?«
Sie kann mir nicht helfen. Ich muss alleine klarkommen. Also nehme ich all meine Kraft zusammen, stemme das Metall hoch und rolle mich zur Seite. Die Kanten sind scharf, ich schneide mir die Finger an ihnen. Blut rinnt meinen Arm hinab, ich ignoriere es. Kaum ziehe ich die Hand weg, da kracht die Platte neben mir zu Boden. Schwer atmend bleibe ich einen Moment liegen, hebe schützend die Arme über den Kopf, falls weitere Teile des Schwebers herabstürzen. Aber alles bleibt an seinem Platz.
Beißender Rauch dringt in meine Nase und bringt meine Augen zum Tränen. Um mich herum wird es heißer. Flammen fressen sich durch den Rumpf des Schwebers. Wir müssen dringend ins Freie! Hektisch sehe ich mich um, versuche, Tally in dem Chaos zu finden. Kabel, Metallverkleidungen und die Polster der Sessel liegen wild durcheinander. Dazu Splitter der zerbrochenen Scheiben.
»Tally! Wo bist du?«
Ich bekomme keine Antwort. Das Einzige, was ich höre, ist das Prasseln des Feuers. Es breitet sich aus. Der vordere Teil des Schwebers ist schon nicht mehr zugänglich. Ich hoffe, der Pilot konnte sich retten.
Hinter mir höre ich ein leises Stöhnen. Ich wirble herum. »Tally!«
Sie reagiert nicht. Wo ist sie?
Dann endlich entdecke ich zwischen den Sesseln ihren violetten Haarschopf. Ich springe zu ihr, will sie an den Schultern packen und hochzerren, doch Tally schüttelt den Kopf. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. Ihre Haut ist stark gerötet. Dadurch zeichnen sich die sonst roten und schwulstigen Narben weniger von der Haut ab.
»Med-Pack«, flüstert sie.
Med-Pack. Natürlich … aber in dem Chaos? Ich weiß nicht einmal, wo ich es suchen soll. Dabei muss es einen standardisierten Platz dafür geben, wie für alle Teile, die zur Ausrüstung von Schwebern, Forschungseinrichtungen oder Wohnungen gehören.
Unsicher, in welche Richtung ich mich wenden soll, steuere ich einen Haufen mit besonders vielen Trümmern an. Ehe ich mich nach einem Teil bücken kann, räuspert sich Tally. Ich drehe mich zu ihr um und sehe sie fragend an. Tally deutet mit dem Kopf zur Ausstiegsluke im hinteren Teil des Schwebers.
Mit zitternden Beinen kämpfe ich mich durch den Schutt. Zum Glück zieht der Rauch nicht zu uns, sondern durch die zerbrochenen Panoramafenster in die Todeswüste hinaus. So kann ich wenigstens halbwegs erkennen, wohin ich trete.
Trotzdem komme ich nur quälend langsam voran. Immer wieder bleibe ich an Metallstreben, Glassplittern oder Kabeln hängen. Bei jedem zweiten Schritt muss ich mich an den Überresten der Außenverkleidung abstützen, um mich auf den Beinen zu halten. Das Lodern der Flammen ermahnt mich. Ich muss mich beeilen, sonst ist Tally verloren.
Noch zwei Schritte trennen mich von der Außenwand. In einem Netz, direkt neben der Ausstiegsluke, sehe ich einen dunkelblauen Rucksack mit einem roten Symbol. Ein Äskulapstab – woher weiß ich das? – prangt in der Größe meiner Handfläche auf der vorderen Tasche des Rucksacks. Das Med-Pack. Noch ein Schritt, dann kann ich es greifen.
Plötzlich spüre ich eine Hand an meiner Seite. Ich drehe mich um. Tally steht mit Schweißperlen auf der Stirn hinter mir. In der Hand hält sie eine Glasscherbe, scharf und spitz sieht diese aus, als könne sie leicht durch sämtliche Materialien hindurchschneiden.
»Tally!« Überrascht ziehe ich eine Augenbraue hoch. »Du kannst stehen! Lass uns schnell von hier verschwinden.«
Aber Tally schüttelt den Kopf. Sie greift nach meinem Arm, packt mein Handgelenk. Dann setzt sie die Glasscherbe an meiner Haut an. »Es tut mir leid …«
Vor Schmerz schreie ich auf. Ich will die Hand wegziehen, doch Tally hält sie fest.
»Halt still!« Sie presst meine Finger zusammen und übt mehr Druck auf die Scherbe aus. Die Haut gibt nach. Blut quillt hervor.
»Was soll der Scheiß?« Ich will Tally von mir stoßen, aber da lässt sie die Scherbe bereits fallen und zieht mit einer ihrer Haarklammern aus der Wunde ein winziges Metallstück hervor. Es sieht beinahe aus wie die Chips, die Tieren im Forschungszentrum eingepflanzt werden. »Das … Was ist das?« Verwirrt sehe ich sie an.
»Deine Verbindung … Genteck Systeme. Du wirst dein Kind nie zu Gesicht bekommen! Geh zu den Schwestern!« Ihre sonst rötliche Gesichtsfarbe ist verschwunden. Bleich blickt sie mir entgegen, ihr Atem geht stoßweise. Dennoch schiebt sie mich energisch zur Seite und tastet nach dem Med-Pack hinter mir. Sie reißt es aus dem Netz, drückt es an meine Brust. Bevor ich fragen kann, legt sie mir einen Finger auf die Lippen. »Du musst … Geh! Sicherheit. Für euch beide.« Eine Hand legt sie auf ihren Bauch. Unter den Fingern ist die gelbe Bluse rot verfärbt. Quer über ihre Seite verläuft der Blutfleck. »Zu schwach. Kann nicht mitkommen.« Keuchend lehnt sie sich an die Wand. Aus ihrer Hosentasche angelt sie zwei Ampullen und reicht sie mir. »Draußen verstecken … Wärmedecke. Injizieren. Drohnen!«
Sie drängt mich zu einem der zerborstenen Panoramafenster. »Geh!« Kurz schließt sie die Augen, nur um mir darauf einen Kuss auf die Stirn zu drücken. Ihre Lippen beben leicht und sind eisig kalt.
Ich greife nach ihrer Hand und will sie mit mir zerren. Doch Tally schüttelt den Kopf. »Muss bleiben …«
»Tally! Komm mit mir! Wir schaffen das.«
Hinter uns kracht Metall herunter. Es wird heißer, die Flammen nähern sich. Wir müssen hier raus! Aber Tally wehrt meine Hände ab. Sie drückt sich an die Außenwand und deutet mit schmerzverzerrtem Blick auf die Steinwüste außerhalb des Schwebers. »Adara«, flüstert sie. Ihre Beine tragen sie nicht länger, wodurch sie an der Wand herab sackt. »Bitte. Leb … Träume.« Ihre Wimpern flattern, bis sie die Augen zusammenpresst und den Kopf wegdreht.
Unsicher, ob sie noch atmet, beuge ich mich zu ihr hinab. Ich fühle ihren Puls. Erstaunt darüber, woher ich weiß, was ich zu tun habe, überprüfe ich ihre Lebenszeichen. Ich kann ihr nicht helfen. Sie hat zu viel Blut verloren. Auf die Erinnerung, was aus dem Med-Pack sie retten könnte, habe ich keinen Zugriff. Mir bleibt keine Zeit, Handbücher zu wälzen. Die Flammen sind gefährlich nah. Die Ausstiegsluke ist zu weit weg und die Panoramafenster sind zu hoch. Was soll ich tun? Ich kann sie nicht hier zurücklassen! Sie würde sterben. Da begreife ich: Genau das will Tally. Sterben, damit sie mich rettet.
Tränen laufen über meine Wangen. »Oh, Tally!«
Sie reagiert nicht. Doch auch aus ihren Augenwinkeln rinnen Tränen.
Der Schweber rutscht zur Seite, wodurch sich weitere Metallplatten der Abdeckungen lösen. Kabel hängen herab und fangen bereits Feuer. Ich setze das Med-Pack auf, stecke die Ampullen in meine Hosentasche. Ein letztes Mal greife ich nach Tallys Hand und will sie auf die Füße zerren.
Doch sie flüstert: »Du … Kind … Überleben! Weit weg … notwendig! Lauf!«
Da endlich reiße ich mich von ihr los. Bleibe ich, werden wir alle drei hier sterben. Also steige ich über die Trümmer zum Fenster. Die scharfen Kanten der zersplitterten Glasscheibe schneiden mir in die Finger, erinnern mich daran, was Tally vor wenigen Augenblicken getan hat. Auch mein Handgelenk schmerzt und blutet. Später.
Ich schwinge mich hinaus und rutsche am Rumpf des Schwebers hinab, bis die schwarzen Steine mich auffangen. Ich rapple mich auf und laufe mit letzter Kraft los. Wohin ich renne, sehe ich nicht. Tränen verschleiern meine Sicht. Tally sagte, ich soll mich verstecken. Nur wo? Um mich herum kann ich nur verschwommen Steine und Dornengestrüpp erkennen. Nichts, was wirklich Schutz bietet. Also muss das Gestrüpp reichen.
Ich stürze darauf zu, froh, dass meine Beine mich noch tragen. Gerade rechtzeitig lasse ich mich in den Dornenbusch fallen. Über mir höre ich das Surren herannahender Drohnen. Vielleicht können sie Tally retten.
Ich blicke zurück zum Schweber. In dem Moment geht das Wrack endgültig in Flammen auf.
Ich will aufschreien, aber ich beherrsche mich. Tally wollte, dass ich verschwinde, um mein ungeborenes Kind und mich zu retten. Da ist das Mindeste, was ich tun kann, ihren Worten zu folgen und keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Schnell hole ich die Ampullen aus meiner Hosentasche, krame im Med-Pack nach einem Injektor und finde auch die Wärmedecke, von der Tally gesprochen hat. Ich werfe sie über mich und bereite die Ampullen vor. Was auch immer das ist, Tally wird schon wissen, was sie mir gibt. Ich vertraue ihr, also setze ich den Injektor an. Fast augenblicklich verschwimmt die Welt um mich herum und wird schwarz.
Rezensionen zu "Perfektion - Die Veränderten"
von Leseengels Buchblog vom 19.06.2018
von Bookwormdreamers vom 02.06.2018
von Puppets Leseblog vom 15.05.2018
von Mimis Landbücherei vom 04.05.2018
von Myna Kaltschnee vom 25.04.2018
von Buchlilie vom 14.04.2018
von Sara Trimagie vom 13.04.2018
von Magische Momente in der kleinen Bücherwelt vom 13.04.2018
Lesung auf der LBM (YouTube-Video)
Interview und Lesung bei „Auf den Punkt gebracht“ von TV38
Blogbeiträge zum Roman
- Alles hat einen Anfang, so auch die Rohfassung von „Perfektion – Die Veränderten“. Mehr dazu kannst du im Beitrag Es war einmal … ganz anders lesen.
- Lange Zeit habe ich mit den Deadlines gekämpft und gezittert, ob alles pünktlich bis zum 13.04.2018 fertig wird (vor allem der Druck war ein Problem). Mehr dazu kannst du im Beitrag Osternester und Haken schlagende Plotbunnies lesen.
- Im Lektorat tauchen viele Fehler auf. Über einige kann ich Lachen, andere bessere ich aus und bei wieder anderen Stelle ich fest, dass Autoren und Lektoren schön fies zu Charakteren sein können. Diese Lektoratsperlen zu „Perfektion – Die Veränderten“ habe ich gesammelt.
- Die ersten Rezensionen trudeln direkt am Veröffentlichungstag ein und machen mir Mut, weiterzumachen.
Perfektion – Die Ursprünglichen
Flucht und Verstecken sind keine Option mehr. Der skrupellose Forschungskonzern Genteck Systeme ist Adara bis zu den Schwestern der Auferstehung gefolgt. Aber ein direkter Kampf bedeutet weitere Tote. Deshalb entschließt sich Adara, zu Genteck zurückzukehren und den Forschungskonzern von innen zu sabotieren. Doch wie soll sie ohne ihre Erinnerungen wissen, wem sie vertrauen kann? Wird sie es rechtzeitig herausfinden, bevor noch mehr Menschen ihr Leben verlieren?
Taschenbuch: 300 Seiten
Erschienen: 13. Dezember 2020
Perfektion - Die Ursprünglichen
1. Kapitel – Erwachen
Aus unruhigem Schlaf schrecke ich hoch. Ich lausche. Etwas stimmt nicht. Die Rotoren des Wüstenfliegers rattern anders als bisher, wodurch das Rauschen kein gleichmäßiger Ton mehr ist, sondern abgehackt klingt. Normal? Unwahrscheinlich.
Aber was kann ich tun? Ich kenne mich weder mit den Rotoren aus, noch würde ich den Weg dorthin finden. Sicher kümmert sich bereits ein Techniker darum. Kira hat ihren Wüstenflieger schließlich gut im Griff.
Weiß sie Bescheid? Oder sollte ich sie wecken? Ich richte mich auf und sehe zu ihr. Aufrecht sitzt sie im Bett, starrt in das Halbdunkel der Nachtbeleuchtung. Mit den Fingern trommelt sie einen Rhythmus an die Wand. Der Rhythmus der Rotoren. Sie legt den Kopf schief und runzelt die Stirn.
»Kira? Ist alles in Ordnung?« Meine Stimme durchbricht unangenehm die Stille in unserer Kabine. Blechern hallt sie von den metallenen Wänden wider.
Kira sieht mich an. Kopfschüttelnd schlägt sie die Decke zur Seite und schwingt die Beine aus dem Bett. »Ich muss auf die Brücke. Schlaf weiter.«
»Genteck?«
»Vielleicht. Wahrscheinlicher geht uns einfach die Energie aus.« Sie zieht ihre Schuhe an und steht auf. »Schlaf weiter. Wir haben das im Griff.«
So ganz kann ich nicht darauf vertrauen, dass sie es im Griff haben. Eigentlich sollte die Crew doch wissen, wie weit es bis Impara ist und wie viel Treibstoff wir dafür zur Verfügung haben. Ein wenig skeptisch sehe ich Kira an, sage aber nichts dazu. Dennoch kann ich unmöglich ruhig weiterschlafen.
Kira antworte ich: »Dafür bin ich zu wach.« Die letzten Tage lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Kopfgeldjäger oder Drohnen, die mich zurück zu Genteck bringen wollen, könnten überall sein. Auch jetzt brauche ich Gewissheit, bevor ich weiterschlafen kann. Um meine Unruhe zu überspielen, beschließe ich, mich nützlich zu machen.
»Ich werde nach Mira-Mi sehen. Vielleicht kann ich auf der Krankenstation helfen.« Ich richte mich ebenfalls auf, schlüpfe in den blauen Pullover von Kira sowie die Jeans von Mira-Mi und ziehe die Wanderschuhe von Mira-Mis Mutter an. Schmerzhaft werde ich dabei an meine geprellten Rippen erinnert. Es ist zwar bereits deutlich besser, aber dennoch muss ich vorsichtig sein.
Meine Finger sind beim Binden der Schnürsenkel ein wenig steif von den Wundheilungspflastern. Dafür heilen sie merklich. Auch das fiebrige Gefühl ist verschwunden. Erleichtert über die guten Heilungsfortschritte atme ich auf und mache zwei Schritte in Richtung Tür.
Kira dreht sich zu mir um. »Du solltest dich ausruhen. Aber egal was ich sage, ich werde dich eh nicht aufhalten können, oder? Findest du den Weg allein?«
Ich hebe eine Augenbraue. Wir sind gerade mal einige Stunden im Wüstenflieger mitten über dem Meer unterwegs. Wie soll ich mich da in diesem Labyrinth aus Korridoren zurechtfinden? Einmal von der Krankenstation zum Speiseraum, von dort ein Rundgang durch das Luftschiff und dann schlafen haben nicht dazu beigetragen, dass ich mir die Wege merken konnte. Ich würde es gerne auf eigene Faust versuchen, aber wenn ich allein an meine Orientierungsprobleme in den Minen von Dadaban denke, dann sollte ich es lieber lassen.
Dadaban. Ein Ort, den ich wohl niemals wiedersehen werde. Wegen Genteck. Die unterirdische Stadt wurde zerstört. Viele Menschen sind gestorben und … Ich verdränge den Gedanken. Viel zu viele sind bereits tot. Vor allem Tallys Verlust schmerzt mich. Über meine Eltern habe ich dagegen bislang kaum nachgedacht. Ich sollte auch sie betrauern, aber ohne Erinnerung …
Dafür weiß ich mit beängstigender Sicherheit: Ich muss Genteck stürzen und Tally, meine Eltern sowie all die anderen Toten rächen. Noch habe ich keinen Plan, auf welche Art ich das anstellen kann, aber das werde ich herausfinden. Die Schwestern der Auferstehung stehen an meiner Seite. Rebellen in den Augen von Genteck. In meinen Augen die einzige Hoffnung. Kiras Plan, Samen aus dem Saatguttresor in Svalbarna zu stehlen, um eigene Kuppeln wie bei Genteck aufzubauen, gefällt mir. So können wir alle frei sein und ich kann meinem Kind in Sicherheit das Leben schenken. Bei Genteck würde es zu einem Versuchskaninchen oder Schlimmerem …
Ich hebe meinen Blick und sehe Kira an. Noch immer wartet sie auf meine Antwort. Gedanklich wirkt sie aber, als würde sie sich bereits auf der Brücke, ihrer Kommandozentrale, befinden. Sie murmelt Unverständliches vor sich hin und beißt sich immer wieder auf die Unterlippe. Unruhig wippt sie dabei mit dem Fuß.
Ich möchte sie nicht aufhalten, dennoch brauche ich ihre Hilfe. »Leider ist mein Orientierungssinn wohl ebenfalls gelöscht worden«, beantworte ich ihre Frage.
Darauf lacht Kira. Laut und ehrlich. So wie Tally immer gelacht hat. Sogar einzelne Tränen rinnen Kiras Wangen hinab. Genau wie bei Tally, wenn sie etwas sehr amüsierte.
Ich habe meine Aussage aber nicht als Witz gemeint und sehe Kira daher irritiert an.
Einen Moment später beruhigt sie sich. »Dein Orientierungssinn wurde gelöscht? Der hat nie existiert!« Weitere Lacher schütteln ihren Körper.
»Und dann fragst du mich, ob ich den Weg allein finde?« Empört stemme ich die Hände in die Hüften und stehe auf. Wahrscheinlich sollte ich mich darüber freuen, dass sie überhaupt noch einen Anlass zum Lachen findet, aber ich fühle mich von ihr vorgeführt.
»Ein Versuch war es wert. Hätte ja sein können, dass nun mehr Platz in deinem Kopf ist.« Glucksend wischt sie sich die Lachtränen aus den Augenwinkeln.
»Sehr witzig.« Ungehalten presse ich die Lippen aufeinander. Für mich ist jegliche Fröhlichkeit mit Tally im Schweber gestorben.
»Na komm, ein bisschen Foppen muss sein. Außerdem bin ich dadurch nun wa…« Sie hebt den Kopf und geht zur Tür.
Leise höre ich eine Ansage aus einem Lautsprecher: »Kira, wir brauchen dich hier oben. Laufen auf dem letzten Tropfen.« Es könnte Ranus Stimme gewesen sein, aber da bin ich mir nicht sicher. Die Übertragung hat die Stimmlage merkwürdig verzerrt und ihr einen metallischen Unterton verpasst.
Kira bleibt erstaunlich ruhig. Sie zuckt nicht einmal mit der Wimper. Als wüsste sie schon lange, dass der Treibstoff nicht bis Impara reichen wird.
Neben dem Türrahmen betätigt sie einen Knopf und spricht in ein Mikrofon: »Bin unterwegs. Setzt ein Notsignal zu den Schwestern ab, dass wir es nicht rechtzeitig zur Sammlung in Impara schaffen. Dann fahrt so viele Systeme runter wie möglich. Wir werden notwassern.«
»Also nicht Genteck? Ist einer der Rotoren kaputt?«
Kira hebt die Hand. »Mach dir keine Gedanken. Wir wussten, dass uns der Treibstoff ausgeht. Die Sonne hat uns zum Glück noch ein paar zusätzliche Kilometer bis Impara geschenkt.«
Ich gehe zu Kira und lege eine Hand auf ihre Schulter. »Es tut mir leid, dass wir euch in Schwierigkeiten gebracht haben.«
»Das war unsere Entscheidung. Wir brauchen jeden, der auf der richtigen Seite kämpft.« Sie zwinkert mir zu. »Es wird nicht einfach, an das Saatgut in Svalbarna heranzukommen. Aber nur so haben wir die Möglichkeit, für dich, dein Kind und uns alle ein echtes Leben zu erschaffen. San wird da sehr nützlich sein. Und auch Mira-Mi.«
»Mira-Mi? Ich verstehe nicht.«
Kira winkt ab. »Später. Jetzt bringe ich dich erstmal zu ihr. Dann muss ich dringend auf die Brücke. Das Manöver an sich ist zwar Routine, nur …« Sie spricht nicht weiter, sondern beißt sich auf die Unterlippe.
»Nur?«
»Aasgeier. Solange wir in der Luft sind, ist der Wüstenflieger eines der sichersten Transportmittel. Wir werden aber mindestens einen Tag auf dem Wasser treiben, damit die Sonnenkollektoren genug Energie aufnehmen können. Vielleicht kommt auch ein Tanker der Schwestern vorbei und versorgt uns mit Öl. Dann geht es schneller. Dazu muss ich allerdings hoch und alles klären.« Sie öffnet die Tür der Kabine und tritt in den Gang hinaus.
Dieser ist ebenso schwach beleuchtet wie unser Schlafraum. Nur alle paar Meter brennen ein paar Lichter. Um uns herum stöhnt und ächzt das Metall. Die Rotoren des Wüstenfliegers pfeifen hochfrequent.
»Ist das normal?«
»Mach dir keine Gedanken.« Aber Kira lauscht angestrengt. Sie beschleunigt ihre Schritte.
Ich will sie ablenken, also frage ich: »Schaust du auch kurz bei Mira-Mi vorbei?«
»Besser nicht.«
Ihre Aussage verstehe ich nicht. Bislang hatte ich angenommen, dass wir drei beste Freundinnen gewesen sind. Zumindest, bis Genteck mein Gedächtnis gelöscht hat.
»Warum nicht? Was hat sie getan?«
»Umgekehrt. Was habe ich getan?« Kira bleibt stehen und haut mit der flachen Hand gegen das Metall der Wände. Sie schaut zu Boden. »Ranu hat sie verlassen, weil er den Gedanken nicht ertragen konnte, dass sie womöglich zu einer von Gentecks Gebärmaschinen wird. Tja, ihre DNA war zu schlecht. Angeblich. Das haben wir nach drei Jahren erfahren, als Genteck sie endlich gehen ließ. Aber da war es zu spät. Ranu und ich …« Sie schweigt.
»Ihr liebt euch«, ergänze ich daher ihren Satz.
Weiterhin hält Kira den Blick starr auf den Gang vor uns gerichtet. Kein Wort dringt über ihre Lippen.
Dabei gibt es so viel, das ich gerne wüsste. Über uns, über meine Vergangenheit und über die Ziele der Schwestern. Vor allem aber über Genteck. Einzelne Mosaiksteine liegen leuchtend in meiner Hand, aber ansonsten habe ich nichts, woran ich mich orientieren könnte.
Einen Moment sehe ich Kira von der Seite an. Sie wirkt unzufrieden oder vielmehr, als würde sie sich schuldig fühlen. »Ist da noch mehr, was ich wissen sollte?«
Kira stützt sich an der Wand ab. »Es gibt zu viel, das du wissen solltest.«
»Dann fang mit dem Wichtigsten an. Du kennst meine Pläne und weißt, dass ich nicht lockerlassen werde, bis ich Genteck in die Knie gezwungen habe.«
»Das sagst du jetzt. Wir haben nie verstanden, weshalb du zu Genteck gegangen bist und dich hast verändern lassen. Sieh dir Mira-Mi an. Ihre Haut ist grün! Angeblich für eine bessere Strahlungsresistenz. Erhöhte Biliverdin-Konzentration im Blut oder so. Aber nichts davon ist natürlich!« Kira schüttelt den Kopf. »Und San? Hast du gesehen, wie viel er frisst? Ich weiß nicht viel über die genetischen Veränderungen, aber das, was ich gelernt habe, ist besorgniserregend. Verdammt! Er leuchtet! Das ist nicht normal! Weit vor dem Krieg wurden Mäuse und Kaninchen zum Leuchten gebracht, um bestimmte Gene nachzuweisen. Ein Versuchskaninchen, mehr ist er nicht! Aber ja, ihr musstet euch freiwillig in die Hände von Genteck begeben. Was sie mit dir angestellt haben, will ich gar nicht erst wissen. Äußerlich wirkst du normal, aber ohne Gedächtnis?« Einen Moment verharrt sie, die Hände zu Fäusten geballt, den Blick gegen die Wand gerichtet. Dann dreht sie sich zu mir und legt ihre Hände auf meine Schultern. Aus ihren Augen spricht eine Mischung aus Angst und Wut. »Du warst immer die Stärkste von uns. Gerade deshalb musst du vorsichtig sein, nicht leichtsinnig. Finde heraus, was sie mit dir und den anderen angestellt haben. Aber in Sicherheit! Bei den Schwestern. Lass den Kampf gegen Genteck andere an vorderster Front kämpfen.«
»Wie soll ich das tun?«
»Die Schwestern haben Labore. Gentecks sind vielleicht besser, aber wenigstens verfälschen wir nicht, wie wir erschaffen wurden!« Sie schüttelt den Kopf. Dann sieht sie mich voller Besorgnis an. »In Impara sammeln wir uns. Ein Teil von uns wird das Saatgut aus Svalbarna bergen. Alle anderen bereiten die Außenposten der Schwestern auf die Aussaat vor. Wir haben bereits Kuppeln gebaut. Nur du hast noch gefehlt, um das Feuer zu entfachen und uns allen zu zeigen, dass jetzt der richtige Zeitpunkt zum Säen ist. In neun Monaten soll schließlich alles bereit sein …« Sie beißt sich auf die Unterlippe. »Du kannst die Aussaat und die Anzucht überwachen. Dann kämpfst du für uns alle!«
Ich hebe die Hand. So habe ich die Frage nicht gemeint. »Ich kann mich nicht einfach in den Lebenskuppeln der Schwestern verstecken. Genteck will mein Kind und damit bin ich vorerst in Sicherheit. Sie werden mich nicht umbringen, weil sie mich als Gebärmutter brauchen. Andernfalls hätten sie mich gar nicht erst geschwängert. Dadurch bin ich auch unsere größte Chance.«
»Ich wünschte, ich hätte deinen Optimismus.« Sie lässt ihre Hände sinken. »Wir bereden das später. Bis dahin pass bitte auf dich auf und vor allem, ruh dich aus. Dein Körper ist lädiert.« Zügig geht sie weiter. Ihre Schritte werden schneller.
Habe ich etwas Falsches gesagt? Dann aber bemerke ich eine weitere Veränderung in den Klängen des Wüstenfliegers. Das Trampeln von Schritten sowie gezischte Befehle sind zu hören.
»Scheiße!« An der nächsten Abzweigung drückt Kira sich gegen die Wand. Sie bedeutet mir, es ihr gleichzutun und mich ruhig zu verhalten.
»Was ist los?«, forme ich lautlos mit den Lippen.
Sie schüttelt den Kopf. Mit einer Hand verdeckt sie die Augen, als müsse sie das nahende Unheil dann nicht sehen. Wirre Schatten huschen über die Wände des angrenzenden Gangs. Gedämpfte Stimmen dringen zu uns durch. Dazu der Marsch unzähliger Schritte. Sie sind noch ein Stück entfernt, aber wenn mich nicht alles täuscht, bewegen sie sich auf uns zu.
Nirgendwo sehe ich eine Versteckmöglichkeit. Sobald auch nur einer der Unbekannten um die Ecke biegt, wird er uns sehen. Haben Piraten den Wüstenflieger gekapert? Aber so viele?
Plötzlich rauscht ein Gedanke wie eine Drohne, die mich töten will, zu mir heran. Ich will ihn abschütteln, aber es geht nicht.
Genteck!
Wie haben sie uns gefunden?
Natürlich. Die Chips. Tally hat mir erklärt, dass Genteck niemanden verliert. Zu unserer eigenen Sicherheit, sagte sie, damit wir uns nirgendwo verlaufen können. Damals wusste ich noch nicht, dass jeder von uns ein Chip implantiert wurde und so hat ihre Aussage mir tatsächlich ein Gefühl von Absicherung gegeben. Heute aber erschreckt es mich. Wenn ich daran denke, dass Genteck jederzeit Bescheid weiß, wo ich bin, läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter.
Gut, sie erkennen vielleicht nicht mehr, wo ich bin, nachdem mein Chip von der Frau in Minata mitgenommen wurde, aber sie können sicherlich San und Mira-Mi orten.
Mein Herzschlag beschleunigt sich. Was können wir tun? Genteck will mich, so viel ist klar. Zum Verstecken ist es zu spät. Sobald wir uns bewegen, werden sie auf uns aufmerksam. Eine weitere Gedanken-Drohne nähert sich mir unaufhaltsam: Wer sagt eigentlich, dass ich meine Ziele lediglich bei den Schwestern erreichen kann?
Bei dieser Überlegung beginnen meine Hände zu zittern. Ich werde mich nicht verstecken und darauf warten, dass andere den Kampf gewinnen! Wenn ich mich Genteck stelle, bekomme ich vielleicht ganz andere Möglichkeiten, von innen Schaden anzurichten. Kurz stockt mein Atem. Mein Herzschlag stolpert unangenehm, aber gleichzeitig weiß ich, dass es vielleicht leichtsinnig, in meinen Augen aber notwendig ist. Ich muss nur Genteck davon überzeugen, dass sie mir trauen können. Ich bin kein Überläufer, kein Rebell. Lediglich eines ihrer Experimente ohne Gedächtnis.
In meinem Magen rumpelt es unangenehm. Mich verkriechen, wie Kira es sich von mir wünscht, wäre einfacher. Aber dafür bin ich mittlerweile zu wütend auf Genteck. Sie haben Tally, meine Eltern und viele andere auf dem Gewissen. Trotz allem sind meine Gedanken klar und nicht von Gefühlen verschleiert. Dieser Weg ist der sinnvollste, um weitere Opfer zu vermeiden. Kein Angriff von außen, sondern eine Schlacht im Inneren.
Gut, dass Kira keine Gedanken lesen kann. Sie würde mir meine Idee augenblicklich ausreden. Dennoch kann ich nicht riskieren, dass sie mir folgt und Genteck ebenfalls in die Hände fällt. Möglichst leise zische ich ihr zu: »Versteck dich. Ich hab eine Idee, bei der du mir vertrauen musst!«
Ohne ihre Reaktion abzuwarten, nehme ich all meinen Mut zusammen, stoße mich von der Wand ab und renne so schnell wie möglich in Richtung der Schritte.
Blogbeiträge zum Roman
- Ich habe hier ein paar Lektoratsperlen zu »Perfektion – Die Ursprünglichen« gesammelt. Viel Spaß, bei z.T. witzigen Kommentaren aus dem Lektorat.
- Manchmal braucht es etwas länger, bis ich einen Roman fertig bekomme. Warum verrate ich euch im Blogbeitrag »Perfektion – Die Ursprünglichen« erscheint am 13.12.2020
Perfektion – Wunsch nach Freiheit
Die Welt außerhalb der Kuppeln ist zerstört; Kinder hat seit vielen Jahren niemand mehr gesehen. Denn nur dem skrupellosen Forschungskonzern Genteck Systeme gelingt es, Frauen zu schwängern. Der Preis: Mit veränderter DNA und ohne Erinnerungen aufzuwachen.
Tally begleitet die Veränderte Adara, damit sie sich im Alltag zurechtfindet. Beide hoffen, dass die Befruchtung erfolgreich war. Doch ist Adara bereits schwanger? Und kann sich Tally dazu entscheiden, den waghalsigen Fluchtplan in die Tat umzusetzen?
Taschenbuch: 32 Seiten (Kurzgeschichte)
Erschienen: 25. Oktober 2022
Perfektion - Wunsch nach Freiheit
Für einen Moment konnte Tally beinahe vergessen, an welchem Ort sie sich befand. Das gläserne Gefängnis ließ wenigstens kurz ein Gefühl von Freiheit in ihr aufkommen. Tief atmete sie die warme, leicht feuchte Luft ein. Sie duftete nach Moos, frisch geschnittenem Gras und Kiefern. Jedes Mal, wenn sie in dieser Kuppel war, fühlte es sich an, als würde sie nach Hause kommen.
Mit geschlossenen Augen drehte sie sich einmal im Kreis. »Wenn wir doch nur ewig hierbleiben könnten!« Alles in ihr fühlte sich leicht an, als würde die Sonne ihr direkt ins Gesicht scheinen und nicht durch die dicken Glasscheiben. Sie hob die Arme an, als würde sie mit den bunten Schmetterlingen in der Kuppel fliegen.
»Das würde ich mir auch wünschen.« Adara gähnte. »Lass uns eine Pause machen. Ich bin ein wenig müde. Vermutlich habe ich schlechter geschlafen, als ich dachte.«
Tally ließ die Arme sinken und sah Adara mit gerunzelter Stirn an. Normalerweise liefen sie so lange wie möglich durch die Kuppel, um zusätzliche Bewegung zu haben. Doch heute waren sie nur zügig vom äußeren Ring bis zum Wasserlauf in der Mitte gegangen.
Äußerlich wirkte Adara wie in den vergangenen Wochen. Ihre bleiche Haut so ganz ohne Pusteln und Rötungen zu sehen, brachte Tally zum Lächeln. Sie wollte Adara nicht irritieren oder beunruhigen, deshalb sagte sie: »Ich bin so froh, dass die Veränderung bei dir erfolgreich war.«
Adara winkte ab. »Du wirst auch bald so aussehen. Aber warum siehst du mich so besorgt an?«
»Weil du jetzt schon müde bist. Der Schlafmonitor hat keine Auffälligkeiten gemeldet.« Da riss Tally die Augen auf. »Moment! Hat es dieses Mal geklappt? Bist du endlich schwanger?« Innerlich atmete sie auf. Dieses Kind bedeutete Hoffnung, die sie alle dringend brauchten. Gleichzeitig fuhr ein unangenehmer Stich mitten in ihr Herz. Bei Genteck wäre es gefangen. Sie biss sich auf die Unterlippe. Wenn dieses Kind in Freiheit aufwachsen sollte, dann musste sie heute handeln und diesen hirnrissigen Fluchtplan in die Tat umsetzen. Dabei war sie nicht einmal davon überzeugt, dass er unter optimalen Bedingungen funktionieren könnte!
Adara kniff die Augen zusammen. »Ist alles in Ordnung? Und glaubst du wirklich, dass ich schwanger sein könnte?« Ihre Lippen hoben sich im Anflug eines Lächelns, aber sogleich verschwand dieses wieder und sie zuckte die Schultern. »Ich freue mich besser nicht zu früh.« Sie deutete zu einem Entenpaar in der Nähe, dem drei Küken über das Gras folgten. Die Familie watschelte unter einen Rhododendronbusch hindurch und sprang auf der anderen Seite in den Bach. »Werden unsere Kinder auch mit uns durch die Kuppel laufen?«
»Ja. Ich hoffe es zumindest.« Tally zog Adara in die Arme und drückte sie fest. Tief atmete sie durch, um den Kloß in ihrem Hals zu vertreiben. Es war Zeit, dass sie sich gegen Genteck Systeme auflehnten.
Der Forschungskonzern war ein Gefängnis. Vielleicht ein hübsches, mit den letzten Resten der überlebenden Natur von früher in den Lebenskuppeln, aber es blieb ein Käfig. Zudem wusste niemand, wohin die Schwangeren gebracht wurden und ein Kind hatten sie alle seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen.
Davon wollte sie Adara lieber nichts erzählen. Manchmal wünschte sie sich, sich ebenfalls an nichts zu erinnern. Um sich nicht anmerken zu lassen, was sie wusste, flüsterte sie Adara ins Ohr: »Warte ab! Deine Schwangerschaft wird etwas Besonderes.« Dann ließ sie sie los und beobachtete ein paar Kaninchen, die im Zickzack über die Wiese huschten. »Wir sollten weitergehen. Sonst kommst du zu spät zur Untersuchung.«
Adara rollte mit den Augen. »Na gut.« Langsam ging sie den Weg entlang und zog Tally mit sich. »Die großen Bäume da hinten sind Kiefern, richtig?« Dann deutete sie auf die niedrigeren Büsche. »Und die Pflanzen mit den wunderschönen Blüten sind Rhododendren.« Sie strahlte über das ganze Gesicht. Als ein brauner Blitz direkt vor ihnen über den Weg flitzte, zuckte sie zusammen. »Oh! Und die langohrigen Tiere heißen Kaninchen.«
Tally nickte. »Du machst gute Fortschritte.«
»Danke!« Adara sah sich weiter um. »Da! Ein Schmetterling.«
»Ja. Das ist ein Distelfalter. Früher gab es davon sehr viele.« Sie senkte den Kopf. Normalerweise fühlte sie sich leichter, wenn sie die bunten Schmetterlinge in der Kuppel beobachtete, aber seit die Chance bestand, dass Adara wirklich schwanger war … Alles in ihr fühlte sich schwer an. Das Warten hatte ein Ende, aber dadurch würden sie auch an einem anderen Ort untergebracht. Jetzt lag es an ihr, dass alles gelang und sie sich wieder frei wie die Falter fühlen konnte.
Einige Schritte gingen sie schweigend nebeneinander her. Am Ausgang der Grünanlage lächelte sie Adara aufmunternd an. »Es hat bestimmt geklappt.«
»Danke. Ich merke noch nichts, aber der letzte Versuch ist ja auch erst ein paar Tage her.« Sie ging durch die Tür und trat auf den Flur hinaus.
Tally folgte ihr. Das grelle Licht der Beleuchtung im Forschungskomplex stach unangenehm in ihren Augen und der Geruch des Desinfektionsmittels vertrieb all die angenehmen Düfte der Lebenskuppel. Am liebsten wäre sie direkt in die Kuppel zurückgekehrt und hätte die Wartezeit dort verbracht. Doch sie hatte eine andere Aufgabe.
Zusammen gingen sie durch mehrere Flure, entlang an weißen Wänden und unter hellblauen Decken hindurch. Alles sah gleich aus. Zum Glück gab es zahlreiche Wegweiser, an denen sich Tally gut orientieren konnte.
Nach einigen Abzweigungen erreichten sie das Zimmer der Ärztin. Noch einmal drückte Tally Adaras Hand. »Lass dir alles genau erklären. Ich brauche etwas Zeit, dann hole dich hier wieder ab.«
»Wartest du heute nicht?«
»Ich möchte meinen Bruder treffen. Wir haben uns lange nicht gesehen.«
»Deinen Bruder …« Adara neigte den Kopf ein wenig zur Schulter. Sie kniff die Augen zusammen, dann nickte sie. »Viel Spaß dir. Wir sehen uns später.« Sie betätigte den Summer neben der Tür.
Als sich diese einen Moment später öffnete und Adara eintrat, atmete Tally erleichtert auf. Der erste Schritt war geschafft. Jetzt musste sie nur noch zu den Landungsplätzen gelangen, und das am besten ungesehen.